Drei Fragen an Gerhard Lohse

Gerhard Lohse, Autor unseres Bandes Bruno Snell (1896-1986). Geisteswissenschaft und politische Erfahrung im 20. Jahrhundert, im Gespräch mit dem Präsidenten der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung, Ekkehard Nümann.

Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung: Sie schildern die aufklärerisch-liberale Bildungstradition der Familie Snell. Dann kommt der Bruch in Snells Biographie – die Jahre im Detention Camp der Briten während des Ersten Weltkriegs. Inwiefern hat ihn diese Erfahrung geformt?

Gerhard Lohse: Die alte liberale Snellsche Familientradition wirkte zwar fort. Doch im Bündnis mit Bismarck waren die Liberalen in den Zwiespalt von aufklärerisch-liberaler Tradition und konservativ geprägter Gegenwartspolitik geraten. Dieser Widerspruch zeigte sich auch in Snells Elternhaus: Kriegsspielzeug wurde nicht geduldet, aber man wählte die Konservativen. Snell lernte 1914 als Jurastudent in Edinburgh den toleranten Lebensstil der englischen Demokratie kennen, doch bei Ausbruch des Krieges wäre er dennoch "zu den Fahnen geeilt". Erst die britische Sicht auf das Politik- und Kriegsgeschehen während der vier Jahre im Internierungslager nährte seine Zweifel am wilhelminischen Patriotismus und ermöglichte dem Zwanzigjährigen zunehmend ein eigenes politisches Urteil.  

Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung: Während des Nationalsozialismus lehrte und forschte Bruno Snell an der "Hansischen Universität", wie sie damals hieß. Wie gelang es ihm, seine fachliche und menschliche Integrität zu wahren?

Gerhard Lohse: Eine Äußerungsform des Nicht-Einverstandenseins war der politische Witz. Nach dem Tod Hindenburgs wurde Hitler 1934 in einer Scheinabstimmung zum "Führer und Reichskanzler“ gewählt. Snell veröffentlichte damals einen kurzen wissenschaftlichen Text, in dem der Ruf des Esels eine Rolle spielte, eines griechischen Esels. Dieser ruft "ou – ou", gleichlautend mit der griechischen Negation. Der griechische Esel kann also nur "nein" sagen, während, wie Snell hinzufügte, "die deutschen Esel immer nur 'ja' sagen". Im Sommer 1934 prangte an allen Litfaßsäulen der Aufruf: "Ein ganzes Volk sagt am 19. August: JA". Weit über 80 Prozent der Deutschen, die deutschen Esel, sagten "ja". Der Witz war offenkundig und zugleich unangreifbar. Doch mit Witzen ließ sich wenig ausrichten. In der "Inneren Emigration" bereitete Snell ein Großprojekt vor, den Thesaurus Linguae Graecae, und plante bereits für die Zeit nach Hitler die Rückkehr in die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit. 

Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung: Sie zitieren eine prägnante Sentenz von Snell aus dem Jahre 1946: "Wollen wir [...] Europäer sein (und das wollen wir im Grunde schon, wenn wir lesen und schreiben möchten, und vollends, wenn wir Wissenschaft, Technik, Philosophie bewahren wollen), dann wird die Frage brennend: was waren die Griechen?" Läuft in seinem Wissenschaftsverständnis als Klassischer Philologe und als Persönlichkeit alles auf Europa hinaus?

Gerhard Lohse: Snell hielt es für erwiesen, dass um 600 v. Chr. in Indien, China und Griechenland sich ergänzende Denkrichtungen entstanden, welche die Entwicklung der Menschheit auf eine neue Stufe hoben. Das freie und spontane Denken der Griechen führte zur Demokratie und zur Entfaltung einer europäischen Wissenschaft. Das demokratische Rechtsprinzip der Freiheit wurde weiterentwickelt in den allgemeinen Menschenrechten, die mit Rassismus, Kolonialismus und Unterdrückung unvereinbar sind. Auch die Wissenschaft hat ihre Grenze an den Menschenrechten. Snell initiierte 1953 den Kongress "Wissenschaft und Freiheit", auf dem die teilnehmenden Atomphysiker die Kontrolle über die Einhaltung der moralischen Grundsätze in der Nuklearforschung forderten, sie kritisierten das Verfügungsrecht von Politikern. Snell sagte, Wissenschaftler dürften niemals "Handlanger" sein. Die in Griechenland entdeckte Vernunft wird fehlbar, wenn sie im Dienst fremder Interessen steht.

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