Ein Forscher, der lebendigen Anteil an seiner Zeit nimmt – der Klassische Philologe Bruno Snell
In unserer Reihe "Wissenschaftler in Hamburg" ist ein neuer Band über den Klassischen Philologen Bruno Snell (1896-1986) erschienen. Gerhard Lohse, der Snell noch persönlich begegnet ist, schildert in seiner Biographie Geisteswissenschaft und politische Erfahrung im 20. Jahrhundert ein vielseitiges, von politisch-reformerischem Engagement und menschlicher Integrität bestimmtes Forscherleben. Fast dreißig Jahre lang – von 1931 bis 1960 – vertrat Bruno Snell in Hamburg die Klassische Philologie. 1945 wurde er Dekan der Philosophischen Fakultät und von 1951 bis 1953 amtierte er als Rektor der Universität Hamburg
Während des Ersten Weltkriegs war der junge Snell, der 1914 gerade in Edinburgh ein Jurastudium begonnen hatte, in einem britischen Detention Camp interniert. In der Lagerbibliothek entdeckte er eine Ausgabe der Tragödien des Aischylos. Bei Homer bestimmten die Götter die Geschicke der Menschen. Bei Aischylos aber hatten Willensentscheidungen "im Menschen selbst [...] ihren Ursprung", nur so konnten ja tragische Konflikte entstehen. Wie hatte sich bei den Griechen die wachsende Bewusstwerdung und der Anspruch auf selbstverantwortetes Entscheiden herausgebildet? Snells Interesse an geistesgeschichtlichen Vorgängen ließ den Entschluss reifen, sich der Klassischen Philologie zuzuwenden. Es bestimmte später auch Snells wissenschaftliche Arbeit. In seiner "Entdeckung des Geistes" zeichnete er die Entwicklung zur autonomen Persönlichkeit nach, welche die Voraussetzung für das Entstehen der Demokratie und der Philosophie in Athen war. Snell wies darauf hin, dass diese Vorgänge bis heute das Denken und Handeln in Europa nachhaltig prägen.
Wie Gerhard Lohse darlegt, blieb Snell während der Zeit des Nationalsozialismus integer. So artikulierte er sein Nicht-Einverständnis mit den Machthabern geschickt, indem er die den Eselslaut deutende Anekdote lancierte: Der Esel sage im Griechischen "nein",die deutschen Esel sagten hingegen immer "ja", seien also stets folgsam. Nach dem Ende der NS-Barbarei versuchte Snell, den Reputationsverlust der deutschen Wissenschaft durch das Knüpfen internationaler Kontakte und eine europäisch-humanistische Ausrichtung zu profilieren. Er gestaltete den Neuanfang an der Universität nach 1945 aktiv mit, wollte die akademische Lehre mit der staatsbürgerlichen Erziehung zur Demokratie verbinden. Die Universität sollte Teil einer offenen Gesellschaft sein. Als Rektor betonte er die politische Verantwortung von Wissenschaft: "Persönlich muss ich gestehen, dass ich mir einen lebendigen Forscher schwer vorstellen kann, der nicht auch lebendigen Anteil an seiner Zeit nimmt, und dazu gehört vor allem auch ein waches Interesse für die Politik. Dazu sollten wir auch unsere Studenten erziehen."
Gerhard Lohse prononciert die weit gespannte fachliche Orientierung, aber auch die politische Dimension von Snells philologischem Wirken: "Das Ensemble von Philologie, Papyrologie, Geistesgeschichte sowie wissenschaftsorganisatorischen und politischen Initiativen waren für Snell eng miteinander zusammenhängende und aufeinander bezogene Tätigkeiten. Er war überzeugt, dass unser europäisches Denken bei den Griechen beginnt. Für ihn lag das griechische Erbe Europas in Toleranz, Humanität, Aufklärung, Freiheit des Denkens und Demokratie."
Dr. Ekkehard Nümann, Präsident der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung: "Bruno Snell war ein national wie international anerkannter Altphilologe, ein begeisternder Hochschullehrer. Doch die Lehrstuhl-Arbeit war ihm bei Weitem nicht genug: 1950 wirkte er bei der Gründung der Mommsen-Gesellschaft mit, 1955 initiierte er das Europa-Kolleg und von 1943 bis 1978 engagierte er sich im Kuratorium der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung. Theodor Mommsens Selbstauskunft, er sei immer ein animal politicum und Bürger gewesen gilt auch für Bruno Snell. Das zeigt die Biographie von Gerhard Lohse sehr eindrucksvoll."
Die Publikation erscheint im Wallstein Verlag und kann direkt dort oder im Buchhandel (ISBN 978-3-8353-5408-1) bestellt werden.